Projekt in Arbeit

Das Tagebuch

Leseprobe 1/2018

 

Das Handy läutete. Am Display erschien der Name einer guten Bekannten, von der ich seit längerer Zeit nichts mehr gehört hatte. Eine ‚Kursbekanntschaft‘, aus der sich einer netter ‚Bleibe-Kontakt‘ entwickelte. Mehr als Bekanntschaft aber weniger als tiefe Freundschaft.

»Hallo Natalie, wie geht’s? Schön, dass du dich meldest.« Am anderen Ende der Leitung blieb es still. Ich fragte nach: »Natalie?«

»Servus, Maria«, klang es leise.

»Ist alles in Ordnung bei dir?«, erkundigte ich mich. Für gewöhnlich sprühte Natalie vor Optimismus und Fröhlichkeit.

»Ja und nein«, kam die Antwort. »Ich möchte dich um etwas bitten. Du sagst dann einfach, ob du das machen würdest, oder nicht. Aber ganz ehrlich. Und wenn du keine Lust dazu hast, ist es auch in Ordnung, ich wäre nicht böse.«

»Schätzchen, wie wär’s, wenn du sagst, was du auf dem Herzen hast. Du machst es ja mega spannend heute.« Ich war gespannt, worauf diese Unterhaltung hinauslief. Hätte ich jedoch geahnt, welch ein emotionales Wellental mich erwartete, wäre meine Entscheidung eine andere gewesen.

»Du weißt«, Natalie räusperte sich, »dass ich schreibe.«

»No, na, net«, antwortete ich, »wo ich doch alle deine Bücher besitze.«

Das Schmunzeln Natalies konnte ich nicht sehen, aber mir denken, dass gerade ein Grinsen über ihr Gesicht huschte. Sie wusste um meine Begeisterung um ihre Geschichten und dass ich ihre Texte verschlang.

»Schon gut, danke«, gab Natalie zurück. »Du weißt, wie alt ich bin? Nein, kein Kommentar dazu, oder dass man ja nur so alt ist, wie man sich fühlt.«

Verhaltenes Lachen drang durch zu mir und ich gestehe, dass ich genau diese Worte auf den Lippen gehabt hatte.

Natalie fuhr, nachdem ich mich still verhielt, fort: »Viele vor mir und auch nach mir, haben und werden Biografien schreiben. Ich möchte allerdings, dass man von mir erst liest, wenn ich nicht mehr da bin. Zu Lebzeiten möchte ich mich gewissen Dingen nicht konfrontiert werden, die aber unweigerlich auf mich zukommen würden. Vieles, was ich in all den Jahren nur meinem Tagebuch anvertraut habe, wird auf Unverständnis stoßen und Fragen aufwerfen, auf die ich keine Antworten geben möchte. Besser, keine Antworten geben kann, weil ich selbst nicht in der Lage bin, die Wege des Schicksals zu erklären.»

»Aha«, meinte ich. »Und was hat das mit mir zu tun?«

»Ich möchte, dass du – wenn ich nicht mehr bin – mein letztes Werk veröffentlichst … Bitte!«

Jetzt war ich etwas sprachlos, selten genug, dass dieser Zustand bei mir eintrat, und Natalies Frage klang wie ein Weckruf.

»Was denkst du darüber?«

»Ähm, nun ja …«, kam wenig aufschlussreich aus meinem Mund. Allerdings wusste ich wirklich keine richtige Antwort auf das Anliegen. Es war mir wahrscheinlich auch via Telefonverbindung anzumerken, dass ich nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte.

»Hast du irgendwann Zeit, dass wir uns treffen?«, erkundigte sich Natalie und fuhr fort: »Dann kann ich dir das näher erklären.«

Das gab mir ein bisschen Aufschub, die Angelegenheit zu überdenken. »Gute Idee«, antwortete ich, »nächste Woche Mittwoch? Du kannst zu mir kommen und wir setzen uns unter den alten Apfelbaum in den Schatten.«

»Perfekt.« Ein leichtes Aufseufzen, ein Seufzer der Erleichterung, schwang in Natalies Meldung mit. »So gegen drei Nachmittag passt?«

»Ja, das ist optimal. Dann bis nächste Woche, meine Liebe!«

»Bis nächsten Mittwoch … und danke.«

»Nicht dafür.«

Natalie kicherte. »Der Spruch gehört wirklich dir. Also, ciao, ciao!«

Ich legte ein wenig Strenge in meine Stimme: »Ciao? Seit wann bist du denn auf dem Italienisch-Trip? Solltest du nicht lieber deine Kroatisch-Kenntnisse vertiefen. Soweit ich mich da an die Worte deines Lehrers erinnere, solltest du nämlich so oft wie möglich Kroatisch sprechen.«

Erst nach Sekunden der Stille folgte eine fast unhörbare Reaktion: »Das ist Teil der Biografie.«

Himmel, worauf hatte ich mich eingelassen? Noch dazu ließ mich diese rätselhafte Antwort wahrscheinlich die nächsten Nächte nicht schlafen, weil ich ständig darüber nachdenken würde, was das mit der Biografie zu tun hatte. Nützte nichts, ich musste mich gedulden.

»Na dann«, brachte ich es auf den Punkt, »sehen wir uns nächste Woche. Nimm dir Zeugs zum Übernachten mit. Ich glaube, dass wird ein langer Nachmittag. Bis Mittwoch!«

»Alles klar! Tschüüü …!«

»Tschüüü!«

Ich legte das Handy zurück auf den Tisch und starrte das Teil eine Weile an. Geradeso, als erwartete ich, dass es gleich nochmal läutete und ich Antworten auf die vielen Fragen bekäme, die mich jetzt schon beschäftigten. Zu allererst erstaunte es mich, dass Natalie Tagebuch schrieb. War das überhaupt noch ›in‹? Jedenfalls kannte ich niemanden in meinem engeren oder auch entfernteren Bekanntenkreis, der dieser etwas verstaubten Art, Erlebnisse schriftlich festzuhalten, noch nachkam. Für gewöhnlich machten das doch Teenager … Aber wahrscheinlich war das nur eines der wenigen Dinge, die sich hinter den geheimnisvollen Wortspielen verbarg. Und warum sollte ich Natalies Buch veröffentlichen? Wie eingangs erwähnt, war es mehr als bloß eine ›Hallo, wie geht’s dir?‹ und ›Danke gut, und dir?‹-Bekanntschaft aber auch keine langjährige und tiefe Freundschaft, wie es sie ohnehin heutzutage sehr selten gab. Was war es, was Natalie fürchtete oder vermeiden wollte? Vielleicht sollte ich mir diese Fragen auf einem Blatt Papier zusammenschreiben, damit ich nicht vergaß, was ich kommenden Mittwoch von meiner ›kleinen Kroatin‹, wie ich sie gerne scherzhaft nannte, wissen wollte. Diesen Beinamen gab ich ihr während des Kurses, denn ich hatte noch nie eine Erwachsene kennengelernt, die mit solcher Begeisterung und solchem Ehrgeiz Vokabeln büffelte und sich mit Grammatik einer fremden Sprache auseinandersetzte. War es schon dem Kursleiter ein Rätsel gewesen, warum jemand Kroatisch als Lernfach wählte, blieb es für die anderen Teilnehmer unverständlich. Es war allerdings schon in den ersten Stunden erkennbar, dass sie anders war, als man es vielleicht von Lernenden erwartete. Meist gönnte sie sich nicht einmal eine Mittagspause während ihrer Studien. Einzige Unterbrechung des Lernalltags war der Skype-Termin mit ihrem Tutor. Danach strahlte sie immer und schien glücklich zu sein. Auffällig war lediglich, dass Natalie nicht - wie üblich - bloß einen Videotreff pro Woche hatte, sondern oft auch zwei oder drei Mal. Niemand dachte sich etwas dabei, denn während die anderen Fremdsprachenkandidatinnen oder Kandidaten, die Englisch oder Französisch als Unterrichtsfach gewählt hatten, auch Kontakt mit anderen Lernenden im Forum hielten, musste Natalie alleine üben. In ganz Österreich gab es niemanden, der sich dem Studium des Kroatischen widmete. Und was hatte das jetzt mit einer Biografie zu tun?

Ehrlich … ich hatte keine Idee, wie hier Zusammenhänge bestehen sollten.

Ich musste abwarten.

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